Nächtebuch von Sabine, der Schrecklichen, von Schotterstein

Erinnerungen und Träume, die ihr in den endlosen Nächten durch den Kopf gehen

 

1.

Sabine ist 13 Jahre alt. Draußen herrscht ein Unwetter und so sind sie und ihre Geschwister gezwungen im Haus zu spielen. Sabine und ihre jüngere Schwester Konstanze spielen mal wieder Verstecken. In Wahrheit machen sie das immer nur, um eine Ausrede zu haben, warum sie sich in den Räumen aufhalten, die für sie verboten sind. Wann immer sie darin von jemand anders entdeckt werden, legen sie eine unschuldige Miene auf und sagen: „Wir haben nur Verstecken gespielt“. Wenn Sabine und Konstanze von ihrem Vater Ludwig gesehen werden, lacht dieser bei ihrer Ausrede und meint dann leise: „Ihr solltet euch gut verstecken, nicht das euch jemand findet“. So ist ihr Vater, gutmutig und liebevoll. Die Mutter allerdings ist in den Augen der Kinder eine Hexe. Sie gibt jeder Tochter eine Ohrfeige, wenn sie sie in einem der Räume findet und erklärt dann „Ihr seid echt zu alt für solche Kindereien. Setzt euch lieber an eure Handarbeiten. Ihr wisst doch, wenn ihr eines Tages heiratet, sollt ihr genügend Bettwäsche und Tischtücher genäht und bestickt haben, damit ihr sie in die Ehe mitbringen könnt“. Konstanze erwidert dann immer „Ich werde nie heiraten. Wozu brauche ich einen Mann? Ich werde Pferde züchten und alleine mich um alles kümmern…“. Das erbost dann die Mutter „Und wer soll dir dein Gestüt kaufen, dein Vater und ich sicher nicht. Wir sparen das Geld nur für eure Mitgift, damit ihr einen anständigen Mann abbekommt. Oder in eurem Fall überhaupt einen, ohne Geld würde euch doch Keiner freiwillig nehmen“.

An diesem Tag spielen Sabine und Konstanze im Westflügel, wo das Büro ihres Vaters und andere Verwaltungsräume lagen. Sabine schleicht gerade durch den Gang, um nach Konstanze zu suchen, als sie ihre Mutter und ihren Vater aus dessen Büro reden hört. „Ich habe bereits dem Richter einen Brief geschrieben. Wenn er das nächste Mal in der Stadt ist, werde ich mit Alfred zu ihm gehen, damit die Sache ein für alle mal geklärt wird, “ hört sie ihren Vater. Doch die Mutter erwidert keifend: „Der Richter… der Richter… der kommt doch erst in einigen Wochen oder Monaten. Bis dahin geht uns viel zu viel Geld durch die Lappen, weil wir das Land nicht bebauen können. Meine Idee hingegen erlaubt es uns zeitgerecht am Feld zu säen und im Herbst können wir einiges mehr ernten, als letztes Jahr.“ Sabine muss lächeln, das eben klang so, als würde die Mutter die Saat ausstreuen. Aber das Gespräch klingt interessant und so schlüpft Sabine durch die Tür des Nebenzimmers. Auf leisen Sohlen geht sie zu der Verbindungstür, die einen Spalt offen steht und setzt sich daneben hin, um das Gespräch ihrer Eltern besser belauschen zu können. Als sie sich setzt knarren die Dielen und Sabine befürchtet schon, dass sie nun entdeckt wird, aber die Eltern sind so mit ihrem Gespräch beschäftigt, dass sie es gar nicht merken. „Mit der Heirat von Aloisia und dem jungen Alfred ist allen gedient. Wir bekommen das Land, das uns rechtmäßig zu steht und Alfred eine angemessene Frau“, meint die Mutter. „Es ist allen damit gedient? Aloisia ist gerade mal 15.“ – „In einem Monat wird sie 16 und dann wird die Hochzeit sein, schließlich brauche ich auch etwas Zeit um alles vorzubereiten. Außerdem können wir froh sein, wenn jemand Aloisia zur Frau will.“ – „Was meinst du denn damit?“ – „Aloisia ist kein hübsches Kind. Sie hat glatte dunkle Haare, die sich wie die Borsten eines Schweins verhalten. Ihre Lippen sind so dick und ihre Nase… Sie sieht deinem Teil der Familie wirklich zu ähnlich.“ Ludwig ist entrüstet. „Wie kannst du als Mutter nur so etwas sagen. Aloisia ist vielleicht nicht unsere hübscheste Tochter, aber so hässlich wie du sie beschreibst ist sie nun auch nicht. Wenn wir noch ein paar Jahre warten würden, würden sich sicher einige junge Männer darum reißen, sie zur Frau zu nehmen und dann könnte sie eine bessere Partie machen, als diesen Alfred.“ – „Ein paar Jahre warte? Wozu Alfred ist eine gute Partie. Er erbt das gesamte Anwesen, da er nur 2 Schwestern hat.“ – „Falls seine Eltern diese beiden Mädchen an den Mann bekommen. Im Gegensatz zu unserer Tochter sind diese beiden wirklich hässlich.“ – „Ludwig! Wie sprichst du nur über diese beiden liebenreizenden Kinder. Ihre Haare sind wie Engelslocken…“ – „Was ihre Gesichter noch dicker erscheinen lässt.“ Sabines Mutter schnaubt. „Sie habe die Figur ihrer Mutter. Ganz im Gegenteil zu dem jungen Alfred.“ – „Genau, der ist schlank und gut gebaut.“ – „Gut gebaut? Der ist verhungert und krank, vermutlich essen ihm die Mutter und die Schwestern immer alles weg.“ – „Wie kannst du nur so etwas sagen?“ – „Ich sage nur was ich mir denke. Der junge Alfred ist ein kranker Junge. Regelmäßig muss er für mehrere Wochen das Bett hüten. Selbst als Kind ist er nie herumgetobt und egal wie lange er im Garten sitzt, er ist immer blass. Wenn man ihn mal trifft, wirkt er abwesend.“ – „Er ist ein Träumer, das ist ja nichts schlechtes, das ist ein Zeichen dafür, dass er gefühlvoll ist und Aloisia ein liebevoller Ehemann sein wird.“ – „Er ist nicht verträumt, er ist nicht ganz richtig im Kopf. Ich glaube fast der hat noch nicht gemerkt, dass außerhalb seines kleinen Kopfes es noch eine andere Welt gibt… Er wird niemals in der Lage sein, das große Anwesen zu leiten.“ – „Dann wird das Aloisia machen nach dem Tod vom alten Alfred. Du wolltest doch, dass deine Töchter auch rechnen lernen. Du hast ihnen gezeigt wie man Bücher führt und seinen Gewinn berechnet. Du hast ihnen sogar erklärt, wie viel sie für einen Sack Korn verlangen müssen, damit sie ihre Ausgaben wieder hereinbekommen und zusätzlich noch eine Menge Geld daran verdienen. Ich war damals dagegen und meinte, dass Mädchen so etwas nicht zu wissen brauchen, aber du hast weiter gemacht und jetzt hat es sich ausgezahlt. Aloisia kann, wenn der junge Alfred nicht in der Lage dazu ist, alles regeln.“ – „Bist du eigentlich zu mir gekommen, um mich nach meiner Meinung zu fragen, oder um mich über deinen Plan zu informieren.“ – „Die Hochzeit ist fix. Ich kann doch nicht einfach einen Rückzieher machen, wie würde das denn aussehen.“ Ludwig seufzt. „Dann brauchen wir ja nicht weiter darüber zu diskutieren, oder?“ – „Nein“, Sabines Mutter klingt erbost darüber. Sie stapft aus dem Zimmer und lässt die Türe laut ins Schloss knallen. Sabine wartet einige Zeit, dann erhebt sie sich und will ebenfalls das Zimmer verlassen. Da hört sie wie die Verbindungstür ganz geöffnet wird. Sie dreht sich um. „Vater? Ich und Konstanze spielen gerade Verstecken. Es tut mir leid, dass ich in dein Zimmer gekommen bin, und alles gehört habe. Ich weiß, dass ich das nicht darf. Bestrafe mich.“ Der Vater sieht müde und traurig aus. „Lass gut sein Sabine. Geh nur wieder spielen.“ Mit diesen Worten schließt er die Türe ganz und Sabine hört wie er sich an seinen Schreibtisch setzt. Sabines Vater ist gefühlvoll und nett. Ihm liegen seine Töchter alle am Herzen, aber er kann sich leider nicht gegen seine Frau durchsetzten. Als Sabine 5 Jahre alt war, war sie krank, Grippe. Sie lag mit hohem Fieber, Husten, Schnupfen und Halsweh im Bett. Am zweiten Tag kam spät abends der Vater in ihr Zimmer. Er hatte lange arbeiten müssen und wollte nun wissen wie es seiner Tochter geht. Sabine konnte nicht schlafen. Sie hatte abwechselnd Schüttelfrost und Schweißausbrüche. Außerdem tat ihr alles weh. Sie warf sich von einer Seite auf die andere. Der Vater kam ins Zimmer und tupfte ihr mit dem kalten Tuch die Stirn ab. Er gab ihr einen Schluck zu trinken und holte dann aus dem Regal ein Buch. Er setze sich zu ihr ans Bett und begann ihr eine Geschichte vorzulesen. Mitten in der Geschichte, als es gerade anfing spannend zu werden, kam die Mutter herein. „Ludwig, was machst du hier. Sabine ist krank, sie muss schlafen.“ Der Vater brachte nur ein „aber“ heraus, da riss ihm seine Frau das Buch aus der Hand und schob ihn aus dem Zimmer. „Das Kind braucht Ruhe und Schlaf und ganz sicher keine unsinnigen Geschichten um gesund zu werden.“ Dann packte sie Sabine, legte sie auf den Rücken, die Beine gerade nach unten, die Arme an den Körper gelehnt. Sie zog die Decke bis zum Hals über das Kind und stopfte die Enden unter die Matratze, damit sich Sabine nicht bewegen konnte. „Du musst ruhig liegen und schlafen. Morgen kommt Doktor Quacksalb wieder vorbei und wir wollen ihm doch sagen können, dass es dir besser geht.“ – „Aber Mutter mir geht es nicht besser.“ – „Das kommt nur daher, dass du dich nicht anstrengst. Dumme Geschichten und im Bett herumwälzen helfen dir nicht. Du musst ruhig liegen stark sein, um deine Krankheit zu überwinden. Wenn du weniger jammern würdest, würde es dir schon besser gehen.“ Der Vater wollte gerade etwas sagen, da packte die Mutter ihn und ging mit ihm aus dem Zimmer. Sabine schlug so lange um sich, bis sie sich von der Decke befreit hatte. Die Mutter kam noch zweimal in der Nacht vorbei. Jedes Mal tadelte sie Sabine, weil diese nicht schlief und nicht still gelegen hatte, legte sie wieder in die alte Position und ging. Ein paar mal kam aber auch Sabines gutmütiges Kindermädchen Esther herein. Sie gab Sabine zu trinken, tupfte ihr die Stirn mit dem kalten Tuch, wechselte ihr Nachhemd, wenn dieses wieder druchgeschwitzt war und wenn sie sicher sein konnte, dass Sabines Mutter nicht in der Nähe war, dann legte sie sich zu Sabine ins Bett, nahm sie in den Arm und erzählte ihr von dem kleinen ungarischen Dorf in der Nähe von Budapest, in dem sie aufgewachsen war.

Sabine verlässt das Zimmer und sieht den Gang entlang. Ihre Mutter ist nicht mehr zu sehen. Darauf zu achten, dass sie nicht zu laut ist, läuft sie den Gang entlang und ruft leise „Konstanze, wo bist du? Ich muss dir was erzählen.“


2.

Sabine konnte den ganzen Tag nicht schlafen. Sie war so aufgeregt. Als sie nun spürt, dass die letzten Sonnenstrahlen die Erde verlassen haben, schiebt sie ihren Sargdeckel zur Seite und steigt aus dem Sarg. Sie geht hinüber zu Wilhelms Sarg und öffnet diesen. Er schläft noch, und so setzt sie sich auf den Rand ihres Sargs, der nur knapp einen Meter daneben steht und wartet. Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor bis Wilhelm endlich seine Augen öffnet. Sabine muss vor Freude lächeln. „Guten Abend Wilhelm!“ Wilhelm setzt sich auf und erblickt Sabine. „Ich muss träumen. Ich sehe Sabine. Ich muss träumen, so wie letzte Woche und gestern Abend, als ich mir einbildete, dass ich sie sah.“ – „Nein du träumst nicht, mein Liebster. Ich bin es.“ – „Aber du bist tot.“ - „Ich bin nicht tot, genauso wenig wie du. Lass es mir dir zeigen“ Sabine steht auf. Sie trägt das Kleid, das ihre Tochter Dorothee und ihre Schwägerin Hildegard für ihre Beerdigung ausgesucht haben. Wilhelm konnte den plötzlichen und seltsamen Tod seiner Frau nicht begreifen damals und überlies den beiden Frauen die ganzen Vorbereitungen für die Beerdigung. Aber er erkennt sichtlich das Kleid wieder. Sabine trägt über dem Kleid einen schwarzen samtenen Umhang. Sie beginnt zu lächeln und lässt dabei ihre spitzen Eckzähne zum Vorschein kommen. Wilhelm schaut sie verständnislos an. „Das sind keine menschlichen Zähne“, erklärt ihm Sabine. „Es sind die Zähne eines wilden Tieres, es sind die Zähne eines Vampirs. Ich bin ein Vampir und du nun auch. Wir sind für die Menschen gestorben, aber wir sind nicht tot. Wir sind Untote, die Tagsüber in ihren Särgen liegen und sie nachts verlassen, um sich von Blut zu ernähren, vorzugsweise menschlichen. Wir ‚leben' daher für die Ewigkeit.“ Wilhelm sieht sie ungläubig an. Dann greift er sich an die Zähne und erkennt, dass er ebenfalls solche Zähne hat. Da er nichts sagt, spricht Sabine weiter. „Wie und durch wen ich vor etwas mehr als einem Jahr zum Vampir wurde, ist jetzt nicht wichtig. Ich musste ein Jahr lang alles lernen, was ein Vampir zu wissen hat. Ich habe gelernt zu Jagen, die Regeln und Traditionen der Vampire, ich habe die Vampirgemeinschaft kennen gelernt, und noch einiges mehr. Alles, was ich als Oberhaupt einer Vampirsippe wissen muss.“ Wilhelm sieht sich um. „Welche Sippe? Ich sehe nur dich und mich.“ – „Ja, jetzt noch, aber nach und nach werden wir unsere Kinder, ihre Ehepartner und ihre Kinder auch zu Vampiren machen und dann kann unsere gesamte Familie bis in alle Ewigkeit zusammen sein. Ich habe das ganze letzte Jahr immer wieder bei euch vorbeigeschaut. Ich habe gesehen, wie sehr du mich vermisst hast, wie sehr du unter meinem Verlust gelitten hast, deshalb habe ich dich als erstes auch zu einem Vampir gemacht.“ Wilhelm steht nun auf und geht auf Sabine zu. „Ja, ich habe dich vermisst, du kannst dir nicht vorstellen wie sehr.“ Wilhelm nimmt sie in den Arm und küsst sie. Dann sieht er an sich herab. „Aber wie ich feststellen muss, geht es immer noch, obwohl ich jetzt Vampir bin.“ Er grinst und fällt über Sabine her. Er legt sich mit ihr in den Sarg und nach mehr als einem Jahr beweißt er ihr wieder seine Liebe und Männlichkeit. In den frühen Morgenstunden verlassen Sabine und ihr Mann schließlich ihre Gruft und Sabine zeigt ihm anhand von Tieren, die sie für ihn gefangen hat, wie er zubeißen und saugen muss. Ein Vampir hat so viel zu lernen um selbstständig zu sein, dass dauert seine Zeit und kann nicht in einer Nacht erledigt werden. Als die beiden wieder zu ihren Särgen zurückkommen, meint Sabine: „Du brauchst noch einen Beinamen.“ – „Einen Beinamen?“ – „Ja, die meisten Vampire haben so etwas. Ich heiße jetzt Sabine die Schreckliche. Diesen Beinamen habe ich hauptsächlich, um mir Respekt zu verschaffen. Weibliche Familienoberhäupter sind sehr selten und nicht besonders gern gesehen.“ Sie schaut Wilhelm einen Augenblick an, dann meint sie lächelnd: „Zu dir würde Wilhelm, der Wüstling gut passen.“ In gespielter Entrüstung erwidert er: „Wilhelm der Wüstling, wie kommst du denn darauf.“ – „Ach nachdem, was du als erstes in deinem neuen Dasein gemacht hast… Außerdem kenne ich dich, du wirst dich in Zukunft sicher lieber an einer drallen Magd vergreifen, als an einem starken Knecht.“ Wilhelm grinst und nickt. Nach einem innigen Guten-Tag-Kuss legen sich beide in ihre Särge und schlafen ein.

 

Der Name Wilhelm, der Wüstling wurde nach kurzer Zeit in Wilhelm, der Wüste geändert. Die anderen Vampire reagierten sehr befremdet auf den Beinamen und vor allem die weibliche Vampirwelt trat mit angewidertem Blick oftmals einige Schritte zurück, als sie ihn kennen lernten. Um nicht einen falschen Eindruck zu hinterlassen, wurde daher der Name geändert und über die Zeit beibehalten.

 

3.

Lumpi ist erst seit wenigen Tagen Vampir. Komischerweise scheint er mit der Situation besser umzugehen, als die anderen Kinder. Er hört gespannt zu, wenn ihm jemand etwas über das Vampirsein erklärt und er steht jeden Abend mit Freude auf und verlässt seinen Sarg. Sabine sitzt allein in der Gruft. Sie schreibt gerade die letzten Ereignisse in die Familienchronik. Lumpi kommt recht früh wieder zurück. Er sieht traurig aus, fast so als hätte er geweint. Sabine sieht kurz auf. „Guten Abend Lumpi, schon wieder hier? Kein Glück gehabt?“ Lumpi schweigt und sieht Sabine nicht an. Als Sabine sich schulterzuckend wieder der Chronik zuwendet, flüstert Lumpi plötzlich: „Sie ist tot.“ Sabine sieht wieder von ihrem Buch auf. „Wer ist tot? Hast du zu lange gesaugt, wir sagten die doch, du musst aufpassen, wir wollen keine Leichen hinterlassen, das erweckt zu viel Aufmerksamkeit.“ Sabine wird ein wenig wütend, sie hatte den Kindern immer eingetrichtert nicht zu töten. Lumpi schüttelt den Kopf. „Ich hab immer nur einen Schluck von ihr genommen, als Nachspeise quasi. Und gestern als ich ging, lebte sie noch, heute Abend aber war sie tot.“ - „Menschen sterben nun mal“, antwortet sie nur, bis sie ncoh mal über seine Worte nachdenkt. „Sagtest du eben, du hast immer nur einen Schluck genommen? Hast du denn jede Nacht an demselben Menschen gesaugt?“ Lumpi nickt. „Ach Lumpi, das kannst du doch nicht machen. Menschen brauchen einige Zeit bis sie wieder neues Blut haben, du musst sie einige Tage besser Wochen in Frieden lassen, bevor du dich erneut an ihnen vergreifst. Wobei am besten wäre, wenn du jeden Menschen nur einmal beißt.“ – „Ich dachte ein kleiner Schluck macht nichts. Und sie ist doch so schön und so lieb… Ich meine sie war es.“ Eine Träne rinnt über seine Wange. „Von wem sprichst du eigentlich, kanntest du sie etwa?“ – „Ja, Ileana war immer nett zu mir, sie hat mir zugehört und mich in den Arm genommen und sie war so schön.“ – „Aha“, ist Sabines Antwort nur, sie kann sich an niemanden mit dem Namen erinnern, aber im Grunde ist das auch nicht wichtig. Sie steht auf und geht zu Lumpi. Sie setzt sich neben ihn und legt einen Arm um ihn. Lumpi war immer ein wilder Junge, der ständig nur Unsinn im Kopf hatte. Er hat den anderen Streiche gespielt und seine Geschwister regelmäßig geärgert. Er wirkte immer stark, hart und gefühllos, doch in Wahrheit war und ist er immer noch, sehr sensibel. Er sucht nach Nähe und Zärtlichkeit, die ihm seine Eltern nicht gaben. Sabine hat zu Lebzeiten ein wenig versucht den Kindern so was wie Sicherheit und Geborgenheit zu geben, aber sie ist nun schon länger tot und sie muss sich außerdem eingestehen, dass auch sie sich zu wenig gekümmert hat. Diese Ileana dürfte Lumpi gegeben haben, was er brauchte. Vielleicht war sie sein Kindermädchen, nein, die hieß anders, oder? Schließlich erhebt Sabine wieder das Wort. „Lumpi, hör mir nun gut zu. Wir sind jetzt Vampire, wir sind in den Augen vieler Menschen Bestien. Wir sind Jäger und trinken menschliches Blut. Früher als Mensch, haben wir Rinder, Schweine und Hühner gegessen. Das war ganz natürlich. Und keiner von uns hätte daran gedacht sich mit einem Schwein anzufreunden. Wir haben sie gepflegt und gefüttert, bis sie auf unseren Tellern landeten. Und nun, nun sind es die Menschen, von denen wir uns ernähren, und so wie wir früher die Schweine behandelt haben, müssen wir nun die Menschen behandeln. Sie sind unsere Nahrung, mehr nicht. Wir haben keine Beziehungen zu ihnen, und das nicht nur, weil es verboten und gefährlich ist, schließlich wissen wir nie, welcher von ihnen ein Vampirjäger ist, sondern auch, weil es nichts bringt. Wir bleiben wie wir sind, bis in alle Ewigkeit, wir sind unsterblich. Die Menschen allerdings werden alle früher oder später dahinscheiden. Und noch was, sie werden älter. Wenn du dir jetzt ein hübsches Mädchen aussuchst, dem du den Hof machen willst, dann wird diese in wenigen Jahren verheiratet sein und Kinder bekommen, während du immer noch der selbe Junge bist wie heute. Und eines Tages wird sie tot sein und du noch immer weiter leben. Der Schmerz ist vorauszusehen, und daher rate ich dir etwas. Nimm die Menschen als etwas, das sie nun mal für uns sind, Nahrung, nichts weiter. Schließe Freundschaften mit anderen Vampiren, aber nicht mit Menschen. Wenn es dir schwer fällt, dich von den Menschen, mit denen du noch bis vor wenigen Tagen zu tun hattest, zu trennen, dann jage in Zukunft nicht hier im Dorf, fliege weiter weg. In 60 Jahren, wird keiner deiner Bekannten mehr leben, dann kannst du hier auf Jagd gehen, dann sind es alles Fremde für dich.“ Sabine sieht Lumpi an. Lumpi schaut zu ihr. In seinem Gehirn scheint es zu arbeiten. „Hast du in etwa verstanden, was ich dir sagen will?“ fragt sie nun unsicher. „Ja, Großmutter, ich denke schon.“ Langsam erhebt er sich. „Ich werde noch einmal fliegen, ich habe noch nichts gegessen.“ Mit kaltem Blick verlässt er die Gruft. Sabine sieht ihm nach. Sie hat ein schlechtes Gewissen. Sie ist lange genug Vampir, um zu wissen, dass Freundschaften unter Vampiren, nicht dasselbe sind wie die unter Menschen. Vampire sind sich nicht Nahe, es sei denn sie waren es schon vor ihrem Tod, wie sie und Wilhelm. Und Vampire sind auch nicht füreinander da. Jeder ist sich selbst der nächste, in einer Gefahr rettet jeder sich und selten kümmert er sich um jemand anderen. Lumpi wird das irgendwann herausfinden. Sabine wird traurig, weil sie weiß, dass gerade die Kinder mehr Zuwendung, Verständnis und Liebe bräuchten, als sie von Vampiren jemals bekommen werden, schließlich sind und bleiben sie für immer Kinder. Sabine steht auf und geht zu ihrem Sarg zurück um an der Chronik weiter zu schreiben. Noch einmal blickt sie auf und denkt. ‚Es war trotzdem das Beste, Lumpi zu sagen, das Menschen nur Nahrung sind und nichts weiter, es wird ihn vor Schmerz und Problemen bewahren, wenn er sich an meinen Rat hält.'

 

Über 150 Jahre hat Lumpi sich an den Rat gehalten. Er hat die Kleidung und Sprache der modernen Menschen angenommen. Er hat mit vielen Zeit verbracht, aber er hat immer nur mit ihnen gespielt. Sie waren wie Puppen für ihn. Er hat ihnen was vorgespielt und wenn er Hunger bekam, oder es ihm langweilig wurde, so hat er einfach einen von ihnen genommen und sich an ihm gestärkt. Er wurde kühl und aufbrausend. Die fehlende Liebe und Zuneigung verkraftete er manchmal nicht, doch dies konnte er nicht zeigen. Er wollte wie alle Vampire hart und egoistisch sein. Immer gelang es ihm nicht und so war sein Wesen von enormen Stimmungsschwankungen gezeichnet. Bis zu dem einen Abend, als ein menschliches Mädchen ihm das Herz stahl.

 

4.

Sabine verlässt die Gruft und fliegt in die Nacht hinaus. Irgendetwas liegt in der Luft, das spürt sie, aber sie kann nicht genau sagen, was es ist. Als ob eine fremde Kraft sie leitet, fliegt sie zum städtischen Krankenhaus und landet auf einem Fenstersims. Gerade als sie überlegt, warum sie hierher geflogen ist, bemerkt sie im inneren des Zimmers eine Gestalt auf einem Sessel sitzen. Sie sieht genauer hin und erkennt Lea. Lea hat ein Baby im arm, ihr Baby. Sabine sieht sich weiter im Zimmer um. Es brennt nur eine kleine Lampe, daher ist der Raum nur schwach beleuchtet. Überall stehen Geräte herum, die merkwürdige Lichter haben und Geräusche machen. Das Baby ist durch Schläuche und Drähte mit den Maschinen verbunden. Sabine versteht von diesen Geräten nichts, aber sie versteht etwas von Menschen. Sie betrachtet das Baby genauer und erkennt, dass es sterben wird und selbst ein ungeschultes menschliches Auge hätte erkannt, dass Lea es auch weiß. Sabine sieht die beiden an. Lea summt leise vor sich hin, während eine Träne nach der anderen über ihre Wangen kullert. Da spürt Sabine, dass der kleine Körper tot ist. Vielleicht spürt Lea es auch instinktiv, vielleicht zeigen Lea auch die Geräte, dass das Kind tot ist. Das weiß Sabine nicht, aber sie sieht, dass Lea es weiß, denn diese schreit auf, drückt den leblosen Körper gegen ihre Brust und heult furchtbar. Eine Frau betritt den Raum, sie schaltet die Geräte aus, entfernt die Drähte von dem Baby und zieht ihm zuletzt einen Schlauch aus dem Mund. Die Frau legt Lea kurz die Hand auf die Schulter und flüstert ihr etwas zu, dann verlässt sie wieder den Raum. Lea weint immer noch. Sie schluchzt und schreit. Sie drückt das tote Baby so fest an sich, das Sabine die Knochen brechen hört. Sabine kann das nicht mit ansehen. Wo sind Leas Eltern, wo ihre Tanten und Onkel, Geschwister oder Freunde, wo ist Lumpi? Warum ist keiner bei dem Kind, um ihm beizustehen? Langsam rutsch Lea vom Sessel auf den Boden wo sie kniend immer noch den leblosen Körper an sich drückt. Sabine erträgt diesen Anblick nun wirklich nicht mehr und wendet sich ab. Vampire sind egoistisch und herzlos, aber dieses Bild weckt selbst in dem härtesten Vampir Mitleid. Sabine fragt sich wieder, warum keiner bei Lea ist. Die Menschen, die immer so hilfsbereit und liebevoll tun, lassen ein Mädchen mit ihrem toten Kind allein. Sabine würde Lea gerne von ihrem Schmerz befreien, aber das würde bedeuten, sie müsste Lea töten und Sabine weiß, das Lumpi dieses Mädchen liebt und es nicht verkraften würde. Lumpi! Plötzlich denk Sabine daran, Lumpi zu holen. Erneut dreht sie sich zu dem Zimmer um, um noch mal einen flüchtigen Blick auf Lea zu werfen, die immer noch schreit und tobt. Nein, entscheidet sich Sabine, diesen Anblick kann sie Lumpi nicht antun. Selbst sie kann es kaum ertragen. Sabine erhebt sich in die Luft und fliegt davon. Sie fliegt zum Friedhof, doch als sie darüber schwebt, entscheidet sie sich anders. Sie fliegt weiter zu der neuen Kirche, die nicht weit vom Friedhof entfernt ist. Sie landet davor und betrachtet das Gebäude längere Zeit. Sie ist seit mehr als 100 Jahren nicht mehr in einer Kirche gewesen. Langsam steigt sie die Stiegen hinauf zum Haupttor. Unerwarteter Weise ist das Tor offen. Sabine geht in die Kirche, die um diese Uhrzeit vollkommen leer ist. Es brennt kein Licht. Nur die Kerzen hinten in dem einen Ecke erleuchten den Raum. Sabine geht zu den Kerzen. Da steht „1€ pro Kerze“. Sabine hat keinen Euro, sie weiß noch nicht mal, was ein Euro ist. Trotzdem greift sie zu einer Kerze und zündet sie an. „Herr, sei ihrer armen Seele gnädig“. Kurz überlegt Sabine, ob sie auch noch ein Kreuzzeichen machen soll, doch sie findet es unpassend, als Kreatur der Nacht ein Kreuzzeichen zu machen. So verlässt sie lautlos wieder die Kirche. Sie fliegt zur Gruft und steigt in den Sarg. Die Bilder des Abends gehen ihr nicht aus dem Kopf, aber erzählen kann sie auch keinem davon, weil sie nicht mit Sicherheit weiß, wer außer Lumpi die Wahrheit über Lea kennt.

 

5.

Sabine sitzt mit Hildegard und Dorothee im Saloon. Sie nehmen gerade gemeinsam ihren sonntäglichen vier Uhr Tee ein. Sabine wirft gerade Dorothee einen bösen Blick zu, weil diese bereits nach fünf Minuten beginnt herumzuzappeln. Sabine seufzt innerlich, sie hatte gehofft, dass Dorothee mit 23 langsam etwas ruhiger und vornehmer werde würde. In diesem Moment klopft es leise an der Tür. „Ja, bitte“, meint Sabine und wirft Dorothee noch mal einen Blick zu. Ein Dienstmädchen öffnet leise die Tür und knickst. „Es ist ein Brief für sie angekommen, gnädige Frau“, erklärt das Mädchen und bleibt zaghaft an der Türe stehen. „Bringen sie ihn her.“ Sabine winkt das Mädchen zu sich. Sie nimmt das Kuvert von dem Teller und deutet dem Dienstmädchen an, das es sich entfernen könnte. „Von wem ist er denn“, fragt Dorothee neugierig und lehnt sich etwas vor, um den Namen auf dem Brief lesen zu können, dabei hält sie ihre Tasse gefährlich schief. „Dorothee, achte bitte auf deinen Tee“, mahnt sie Sabine. „Er ist von meiner Mutter.“ Sabines Gesicht nimmt einen gequälten Ausdruck an. „Vielleicht ist sie ja tot“, erklärt Dorothee grinsend. Sabine wirft ihr einen bösen Blick zu. Meint dann aber mit traurigem Unterton „Nein, dann wäre der Brief ja von ihrem Notar oder meiner Schwester und nicht von ihr.“ - „Ja richtig.“ Dorothee lehnt sich gelangweilt nach hinten. „Was schreibt sie denn schönes“, fragt Hildegard. Sabine sieht sie an. Hildegard lächelt und wirkt äußerst entspannt, dabei kennt sie Sabines Mutter. Sabine schaut Hildegard fragend an. Vermutlich hat diese wieder ihren Tee mit Rum oder ähnlichem ‚versüßt', denk sie. Dann öffnet sie den Brief. „Und?“ fragt Dorothee nun doch etwas neugierig. Sabine liest ein wenig und meint dann gelangweilt: „Das Wetter mach ihr zu schaffen, ihre Hüfte schmerz wieder schlimmer.“ – „Wie aufregend.“ Dorothees ironischer Unterton ist nicht zu überhören. Sabine wirft ihr wieder mal einen bösen Blick zu. Dann liest sie weiter. „Sie hatte einen eingewachsenen Zehennagel, aber Dr. Bantscher hat ihn ihr entfernt.“ Sabine blickt angewidert auf den Brief. Wie kann ihre Mutter nur solche Sachen schreiben. „Sie musste den Stallburschen und das Dienstmädchen entlassen, weil diese sich nachts in der Küche geküsst haben. Was macht meine Mutter nachts in der Küche?“ – „Kuchen backen sicher nicht“, schiebt Dorothee wieder mal einen Kommentar. Sabine wirft ihr erneut einen bösen Blick zu. „Jetzt jammert sie, dass kein Personal zu finden sei“, erzählt Sabine weiter. „Kein Wunder, bei der alten Schachtel will doch keiner arbeiten“, bemerkt Dorothee. „Was verständlich ist“, meint Sabine darauf. Hält sich dann aber sofort die Hand vor den Mund, weil sie zu spät gemerkt hat, was sie da gesagt hat. Dorothee grinst. Hildegard auch, aber vermutlich weniger wegen der Bemerkung. Nachdem sie weitere Zeilen gelesen hat, entfährt Sabine ein „Oh Gott!“. Dorothee sitzt plötzlich kerzengerade. „Sie hat jemanden umgebracht“, stellt Dorothee mit ernster Stimme fest. „Nein“, antwortet Sabine. „Schlimmer, sie will uns besuchen.“ Dorothee schaut entsetzt. „Oh, wie schön“, erklärt Hildegard. „Wann kommt sie denn?“ Sabine schaut Hildegard befremdet an. Was hat Wilhelm da nur für eine Frau für ihren Sohn gefunden? Schnell liest sie den Brief zu Ende, schaut dann schockiert in die Runde und meint langsam: „Nächsten Samstag.“ Dann liest Sabine noch mal das Datum auf dem Brief und wird wütend. „Wen hat meine Mutter bitte damit beauftragt diesen Brief hierher zu bringen, einen Einbeinigen mit einem lahmen Gaul, oder was? Diese Frau achtet aber auch immer darauf, dass ihre Besuchsankündigungen so knapp kommen, dass man sie nicht mehr erwidern kann.“ Sogleich greift sie neben sich und klingelt nach dem Dienstmädchen, dann wendet sie sich der immer noch entspannt dreinschauenden Hildegard zu. „Hildegard, bitte rede mit den Kindermädchen und Lehrern. Sie müssen die Kinder auf diesen Besuch vorbereiten. Sie sollen sich so anständig, wohlerzogen und sittsam benehmen, wie sie nur können. Wir werden es vermutlich nicht schaffen deinen Sohn Ludwig bis Samstag auf ein Internat zu schicken?“ Hildegard sieht Sabine belämmert an. „Ach, vergiss es.“ Das Dienstmädchen betritt den Raum. „Sie haben geläutet?“ – „Ja, sei doch bitte so nett und sag Frau Sense, sie soll bitte sofort zu mir kommen.“ Das Dienstmädchen nickt und verlässt den Raum. Hildegard hat ihren Tee ausgetrunken, streckt sich und verabschiedet sich ebenfalls, nachdem Sabine sie noch mal an die Kindermädchen und Lehrer erinnert hat. Sabine schüttelt erneut den Kopf, über Hildegards Ruhe und Gelassenheit trotz dieser Nachricht. Dann wendet sie sich Dorothee zu. „Dorothee, du wirst nächsten Sonntag bereits am Vormittag hier sein zum Tee.“ Trotzig wie immer, antwortet diese: „Nein, ich hab schon was anderes vor.“ Sabine sieht Dorothee ernst an. „Du wirst hier sein! Wenn meine Mutter dich nämlich nicht bis spätestens Sonntagvormittag zu Gesicht bekommt, wird sie dir mit Sicherheit einen Besuch abstatten und das willst du doch nicht, oder?“ – „Nein!“ Dorothee schüttelt es bei dem Gedanken. Da klopft es an der Tür und Frau Sense, die Haushälterin betritt den Raum. „Ah gut, Frau Sense. Wie ich eben lesen musste, wird meine Mutter nächsten Samstag hier eintreffen, um uns mit ihrer Anwesenheit für einige Tage…“, seufzend, „hoffentlich nicht Wochen, zu beehren. Bitte veranlassen sie, dass jegliches Personal, dass auf den Feldern und Wiesen entbehrt werden kann, hier im Haus mit hilft. Die Ställe und der Garten müssen strengstens gepflegt werden. Die Mädchen und Frauen aus dem Dorf, die sonst zu hause sind, sollen ebenfalls mithelfen. Es müssen alle Vorhänge gewaschen werden. Die Deckchen, die Teppiche, alles muss abgestaubt werden…“ Sabine klingt nervös, fast schon hysterisch. „Keine Sorge, gnädige Frau“, beruhigt sie dann Frau Sense. „Ich habe doch schon öfter den Besuch ihrer werten Frau Mutter vorbereitet, ich weiß schon was zu tun ist.“ Dankend sieht Sabine die alte, dicke Frau an. „Gut, Frau Sense, dann arrangieren sie bitte alles nötige.“ – „Mache ich gnädige Frau.“ Mit diesen Worten verlässt die Haushälterin den Raum. Sabine atmet tief durch, bemerkt dann wieder Dorothee. „Bitte vergiss nicht, nächsten Sonntag, gleich nach dem Frühstück. Aber steh nicht zu späte auf.“ Dorothee erwidert genervt: „Ja, Mutter.“ – „Ach und versuche Theodor mitzubringen, Mutter wird ihn sehen wollen, und bitte schau, dass Friedrich zu hause bleibt. Ich will Mutter nicht erklären müssen, warum so ein alter Mann immer noch unverheiratet ist und im Haus seines Bruders wohnt.“ Sabine wischt sich mit der Hand über die Stirn. „So“, meint sie, während sie sich erhebt. „und jetzt muss ich noch deinem Vater die frohe Botschaft mitteilen.“ Sie küsst Dorothee auf den Kopf und geht zu Wilhelms Arbeitszimmer. Sie klopft an seine Tür. „Wilhelm, ich muss dringend mit dir sprechen.“ Von drinnen kommt ein „ich kann jetzt nicht, bin beschäftigt“ heraus. Sabine öffnet die Tür und tritt ein. „Es ist wichtig!“ Auf dem Sessel vor dem Schreibtisch sitzt einer der Männer, der für die Ländereien zuständig ist. Er lächelt Sabine zu, die darauf bemerkt, dass ihm zwei Schneidezähne fehlen und die anderen ziemlich schwarz sind. Der Mann nickt ihr zu. Wilhelm sieht seine Frau genervt an und wendet sich dann an den Mann. „Sie können jetzt gehen, wir besprechen die Einzelheiten später.“ Der Mann erhebt sich und will Sabine die Hand küssen. Diese winkt aber ab und versucht dabei ihren Ekel nicht zu zeigen. Der Mann verneigt sich und geht. „Was kann ich für dich tun, mein Schätzchen?“ fragt Wilhelm und lässt dabei seinen Blick über ihren Körper wandern. „Meine Mutter besucht uns nächsten Samstag.“ Wilhelms verliebter Blick ändert sich sofort und er starrt Sabine entsetzt an. „Ich… ich…“, stottert er. „Ich werde am Samstag leider nicht da sein. Ich wollte dir das schon früher sagen, aber ich hatte noch keine Zeit. Ich fahre Freitag zu meinem Bruder nach Bukarest. Er ist sehr krank, weißt du, ich muss nach ihm sehen.“ Sabine weiß natürlich, dass das eine Ausrede ist. „Dein Bruder hat neben seiner Frau und seinem Butler noch mehrere junge männliche Dienstmädchen, die sich um ihn kümmern können.“ Die ‚männlichen Dienstmädchen' betont Sabine besonders. „Er findet nun mal, dass Männer diese Arbeiten besser verrichten können als Mädchen“, verteidigt Wilhelm seinen Bruder. Sabine sieht ihn mit schiefem Kopf an. „Wir wissen beide, warum er junge Knaben in seinem Dienst hat, statt Mädchen. Na wenigstens kommt durch seine Vorlieben für knackige Jungenhintern auch seine Frau auf ihre Kosten, genug Auswahl hat sie in dem Haus ja.“ Wilhelm sieht sie entrüstet an, grinst dann aber. Dann wieder ernst: „Ich kann mich also diesmal nicht drücken?“ Wilhelms Stimme klingt wie die eines kleinen Kindes, das gerne ein Bonbon hätte. „Nein“, meint Sabine mit fester Stimme. „Diesmal bleibst du. Die letzten beiden Male warst du verreist. Oder war es die letzten drei Male? Na jedenfalls hat sie letztes Mal schon gemeint, dass du vermutlich tot wärst und ich ihr das nur verschweige, damit sie nicht bei uns einzieht.“ Wilhelm gibt sich geschlagen und nickt. Sabine seufzt erneut. „Warum kommt diese Frau nur schon wieder zu Besuch. Sie war doch erst vor zwei Jahren hier. Und Aloisia wohnt schließlich direkt nebenan, warum nervt sie nicht die mit ihrer Anwesenheit.“ – „Was fragst du mich, es ist deine Mutter.“ Sabine nickt und verlässt den Raum.

 

6.

Sabine und ihre Schwestern Konstanze und Aloisia laufen die Wiese vor ihrem Haus hinunter. Als sie außerhalb des Blickfeldes des Hauses sind, lässt Konstanze sich lachend in die Wiese fallen. Sabine ist hinter ihr und sieht das. Sie lässt sich sofort auch fallen und rollt auf dem Rasen zu ihrer Schwester. Die beiden sehen hinauf zu Aloisia, die sich darauf auch fallen lässt und an ihren Schwestern vorbeirollt. Sabine ist darüber verwundert, Aloisia hat schon seit längerem nicht mehr solche Kindereien gemacht. Sie fand, sie sei dafür zu alt. Vermutlich ist ihre Hochzeit, die am folgenden Tag stattfinden soll, der Grund dafür. Aloisia will noch ein letztes Mal Kind sein. Aloisia lacht ebenfalls und sieht zu ihren Schwestern hinauf. Konstanze und Sabine setzten sich auf. „Aloisia?“ fragt da Konstanze. „Freust du dich auf die Hochzeit?“ Aloisia denkt ein wenig nach, bevor sie antwortet. „Mutter hat alles arrangiert. Es wird sicher eine wundervolle Feier. Sie hat nur die besten Blumen besorgt und wundervolles Geschirr,…“ Sabine unterbricht sie: „Ich glaube Konstanze wollte wissen, ob du dich auf die Ehe freust?“ Konstanze nickt zustimmend. „Ich könnte es schlimmer erwischen“, meint diese nur. „Schlimmer? Noch schlimmer als Alfred?“ fragt Konstanze frech. Sabine wirft ihr einen bösen Blick zu. Aloisia wird ernst und nachdenklich. „Das einzige wovor ich wirklich Angst habe, sind die Nächte.“ – „Weil du dann nicht mehr mit deinem Teddy kuscheln kannst?“ lacht Sabine. „Sie hat doch dann einen Riesenteddy im Bett, Alfred.“ Auch Konstanze prustet los. Aloisia bleibt ernst und dreht sich auf den Rücken, um ihre Schwestern nicht mehr ansehen zu müssen. „Nein“, meint sie schließlich. „Ich habe vor dem Angst, was Mutter mir heute erzählte, was nachts passiert.“ Konstanze und Sabine hören auf zu lachen und werden neugierig. „Und? Was ist das?“ fragt schließlich Sabine. Aloisia blickt in den Himmel. Für einige Zeit entsteht ein Schweigen, dann erzählt Aloisia. „Mutter sagte, dass dem Mann, wenn er neben einer Frau liegt ein Schwert zwischen den Beinen wächst.“ – „Ein Schwert? So ein richtiges aus Eisen mit scharfer Klinge?“ fragt da Konstanze ungläubig. „Pscht“, bringt da Sabine sie zum Schweigen, weil sie weiter Aloisias Bericht hören will. „Mit diesem Schwert durchbohrt er dann den Körper der Frau“, berichtet Aloisia weiter. Konstanze glaubt das noch weniger: „Durchbohren? Aber dann würde die Frau ja sterben. Ich denke Mutter hat dir da einen Bären aufgebunden. Das ist sicher nur ein Scherz.“ – „Seit wann macht unsere Mutter Scherze?“ wirft da Sabine ein. „Er schiebt das Schwert in das Loch zwischen unseren Beinen, dort wo das Blut einmal im Monat raus rinnt“, erklärt Aloisia. „Welches Blut?“ wendet sich Konstanze an Sabine. Sabine, die seit zwei Monaten diese Tortour durchleben muss, meint nur: „Das wirst du schon erfahren, wenn du älter bist.“ Konstanze ist mit dieser Antwort nicht zufrieden und will weiter fragen, aber Sabine deutet ihr mit den Händen an zu schweigen. Aloisia starrt immer noch in den Himmel. Schließlich spricht sie weiter. „Mutter sagt, das wird schmerzen und bluten.“ Konstanze unterbricht aufs Neue: „Kein Wunder, wenn man ein Schwert in den Leib bekommt.“ Sabine wirft ihrer jüngeren Schwester einen bösen Blick zu, die daraufhin wieder verstummt. Dann sehen beide wieder gebannt auf Aloisia. „Sie sagt“, erzählt diese weiter, „dass dies notwendig sei, um den Weg, den später ein Kind nehmen wird bei der Geburt, frei zu bekommen.“ Die drei Schwestern haben schon einmal bei der Geburt eines Kalbes zugesehen und wissen daher wie ein Kind aus dem Bauch der Mutter kommt. „Der Mann wird jede Nacht in die Frau stoßen, bis diese ein Kind in ihrem Bauch trägt. Nur in den Nächten, in denen das Blut aus ihr fließt nicht. Mutter hat mir eingeschärft dafür zu sorgen, dass Alfred in diesen Nächten wirklich von mir lässt, weil ich davon krank werden könnte. Sie erklärte mir, dass es den Männern Spaß macht, die Frau zu durchbohren, während diese nur daliegt und unter den Schmerzen leidet.“ Damit beendet Aloisia ihren Bericht, dreht sich auf den Bauch und sieht ihre Schwestern an. Konstanze und Sabine sind schockiert über diese Neuigkeit. Schließlich meint Sabine: „Dann wundert es mich nicht, dass Mutter immer so grantig und böse ist, wenn sie jede Nacht unter diesen Qualen leiden muss.“ Aloisia nickt zustimmend. Konstanze meint dazu: „Ich hab ja immer schon gesagt, ich werde nie heiraten und jetzt weiß ich auch warum.“ Aloisia sieht ihre Schwestern lange an, dann beginnt sie zu lächeln: „Aber bis zur Hochzeitsnacht ist noch viel Zeit. Kommt, lasst uns noch etwas Lustiges machen.“ Mit diesen Worten springt sie auf und rennt los. Sabine und Konstanze folgen ihr.

 

7.

Sabine hat an diesem Tag nicht viel zu tun. Sie schlendert durch den Garten und erklärt den Männern, die gerade die Bäume und Büsche beschneiden, worauf sie achten sollen. Den Mädchen, die gerade neue Blumen im Beet anpflanzen, stattet sie auch einen Besuch ab. Dann geht sie ums Haus herum zu den Ställen, um dort nach dem Rechten zu sehen. Als sie in den Schweinestall kommt, sieht sie Lumpi, der gerade einem Bauernmädchen ein Goldstück zeigt. Das Mädchen grinst und beginnt die Knöpfe an ihrem Kleid zu öffnen. Sabine erschrickt und läuft sofort zu Lumpi. „Was geht denn hier vor?“ Sie dreht Lumpi unsanft zu sich. Dieser starrt sie erschrocken an. „Nichts, Großmutter“ in seiner Stimme kann man die Angst hören. Sabine nimmt seine Hand und öffnet sie, darin findet sie das Goldstück. „Was wolltest du denn mit dem Goldstück, wofür bezahlst du sie?“ Das ‚sie' hat einen verächtlichen Unterton. Lumpi senkt den Kopf. „Ich wollte wissen, was an den Mädchen anders ist, als an uns Buben.“ Sabine ist schockiert. „Du wolltest sie dafür bezahlen, dass sie sich vor dir auszieht?“ Lumpi nickt. Sabine mustert das Mädchen. Es ist vielleicht 14 oder 15, dick, mit prallem Brüsten. Das Mädchen grinst Sabine an und beginnt weiter die Knöpfe zu öffnen. „Um Gottes Willen, lass das“, schreit Sabine sie an. Das Mädchen hat schwarze Zähne und fettiges Haar. Sabine ahnt, dass sie mit Bauernjungen schon so einige Erfahrungen hat. Ihr wird übel bei dem Gedanken, dass dieses Mädchen wohl zu mehr fähig gewesen wäre, als Lumpi nur schauen zu lassen. Das Mädchen macht keine Anstalten sich wieder zuzuknöpfen. „Was ist?“ fragt Sabine erbost. „Ich will, dass du dich wieder anziehst.“ Angewidert sieht sie auf das Mädchen. „Ein Goldstück“, meint das Kind und hält ihr die Hand hin. Sabine ist entrüstet. „Du willst, dass ich dir ein Goldstück dafür zahle, dass du dich wieder anziehst?“ Das Mädchen grinst und zeigt dabei wieder ihre schwarzen Zähne. „Du bekommst ein halbes“, Sabine kramt in ihrer Tasche und holt eines hervor. Bevor sie es dem Kind gibt sagt sie noch. „Wenn er das noch mal versucht und du machst was er dir sagt, dann schwöre ich dir, dass du und deine ganze Familie vom Hof fliegt und ich werde auch dafür sorgen, dass ihr nirgends sonst mehr Arbeit bekommt oder irgendwo Land pachten könnt. Ist das klar?“ Das Mädchen nimmt das Geldstück und nickt. Dann grinst sie Lumpi an und knöpft sich das Kleid wieder zu. „Ab an die Arbeit mit dir“, schimpft Sabine, als das Mädchen fertig ist. Dann packt sie Lumpi am Ohr und zieht ihn aus dem Stall. „Gib mir das Goldstück!“ Lumpi schaut sie böse an: „Das ist meins.“ – „Nein, jetzt nicht mehr, also her damit.“ Unsanft reißt sie es ihm aus der Hand und steckt es in ihre Tasche. Lumpi funkelt sie böse an und will gehen. Sabine hält ihn zurück. „Nein Bürschchen, wir sind noch nicht fertig. Sag mal was fällt dir denn ein. Du kannst doch nicht arme Bauernmädchen dafür bezahlen, dass sie sich vor dir ausziehen oder noch anderes tun.“ – „Was sollten sie denn tun?“ fragt Lumpi und Sabine bemerkt plötzlich wie unschuldig und jung der Knabe noch ist. „Nichts“, meint sie nur ausweichend. „Ludwig, das tut man nicht, das ist gegen jeden Anstand und gegen jede Moral. Und dann noch mit diesem Mädchen.“ Sabine bekommt wieder einen angeekelten Gesichtsausdruck. „Wenn, dann besser so eine.“ Sabine deutet auf ein Mädchen, dass gerade eine Schubkarre mit Erde über den Platz schiebt. Sie ist wohl so alt wie Lumpi oder ein wenig älter. Sie ist schlank, mit fast keiner Oberweite. Obwohl ihre Kleider und Haut dreckig von der Arbeit sind, macht sie den Eindruck, als würde sie sich regelmäßig waschen. Ihre Haare sind frisiert und zu Zöpfen geflochten. Sie hat ein hübsches Gesicht und sieht für ihres gleichen gepflegt aus. Lumpi folgt ihrem Blick. Als Sabine sich wieder ihm zuwendet, erkennt sie, dass das eben ein Fehler war. Lumpis Augen starren auf das Mädchen und Sabine erkennt, dass er sich soeben in sie verknallt hat. Schnell will sie ihre Worte wieder entkräften. „Aber auch sie sollst du nicht dafür bezahlen, dass sie sich vor dir auszieht und auch keine andere.“ Sabine dreht den Jungen wieder zu sich, sodass er sie ansehen muss, statt dem Mädchen. „Ist das klar? Wenn du mal verheiratet bist, hast du eine Frau, die du nackt sehen kannst so oft du willst, aber bis dahin, wirst du warten müssen.“ Lumpi nickt und dreht den Kopf, damit er wieder das Mädchen sieht, das eben hinter dem Stall verschwindet. Sabine nimmt sein Gesicht und dreht es wieder zu ihrem. „Du kannst froh sein, wenn ich deinen Eltern und deinem Großvater nichts von dem Vorfall erzähle.“ Ihr Blick ist böse und Lumpi schaut nun etwas ängstlich drein. „Und jetzt ab ins Haus, den restlichen Tag wirst du drinnen über deinen Lateinvokabeln sitzen und du wirst mir hundert Mal die 10 Gebote schreiben und fünfzigmal das ‚Vater unser'. Vor dem Abendessen bringst du mir das in mein Arbeitszimmer.“ Lumpi nickt und schleicht sich davon. Sabine kann nur den Kopf schütteln. Sie hat echt schon einiges mit dem Jungen mitmachen müssen, aber so was hätte sie wirklich nie erwartet. Als sie noch mal zu dem Stall blickt, beschließt sie sofort dafür zu sorgen, dass die Dicke aus dem Stall in Zukunft nicht mehr in der Nähe des Hauses arbeiten darf, sondern nur mehr auf den Feldern.

 

8.

Sabine sitzt in ihrem Sarg in der Gruft und liest gerade ‚Hamlet'. Ihre Lieblingsfigur in dem Stück ist Ophelia, die Verrückte. Sabine hat es schon an die hundertmal gelesen, aber in langweiligen Nächten wie diese nimmt sie das Buch trotzdem wieder zur Hand. Gerade als Ophelia ihren ersten Auftritt hat, wird der Gruftdeckel langsam zur Seite geschoben und jemand betritt die Gruft. Sabine sieht erst nicht auf, doch dann hört sie ein Poltern. Ein Mädchen ist in die Gruft gekommen. Es ist etwa in Rüdigers alter, hat blonde Haare und eine überdimensionale Masche auf dem Kopf. Sabine sieht sie fragend an. Das Mädchen ist die Treppe heruntergekommen und hat soeben einen, wie es aussieht, Bretterhaufen, neben sich gestellt. Sie selbst lehnt sich auch gegen die Wand und beginnt unaufgefordert zu sprechen: „Ach, endlich bin ich da. Ich dachte schon ich schaffe es nicht mehr bis Sonnenaufgang. Nein, diese Strapazen, die ich durchmachen musste und die Orte, wo ich übernachten musste,… Manchmal dachte ich schon, ich werde diese Reise nicht überleben, Hach,…“ Sabine sieht sie an. Scheinbar möchte das Mädchen bemitleidet werden oder so was, aber Sabine steht nicht der Sinn danach. Sie betrachtet das Kind einfach weiter schweigend. „Ich bin so erschöpft. Beinahe wäre ich abgestürzt. Ich musste ja auch den schweren Klappsarg ganz alleine tragen…“ Ah, der Bretterhaufen ist ein Klappsarg. Sabine staunt, sie hat bisher nur von einem Exemplar gehört. Das Mädchen schielt zu Sabine, die immer noch nichts sagt. Dann sieht sie sich in der Gruft um, und versucht vermutlich anders Sabine zum Reden zu bringen. „Also diese Gruft… so gewöhnlich. Die Wände sind nur blanker Stein, keine Tapeten, keine Täfelungen, keine Bilder. Wie trostlos. Und da hinten tropft Wasser von der Decke!“ Das Mädchen verzieht angewidert ihr Gesicht und sieht nun Sabine direkt an. „Vermutlich leben hier sogar Ratten.“ – „Wir haben da so ein Spiel“, ergreift Sabine nun doch das Wort. „jeder, der eine Ratte sieht, fängt sie und saugt sie aus. Ich habe nun seit Monaten keine mehr gesehen, vermutlich haben sie Angst bekommen.“ Das Mädchen zieht eine Grimasse, als würde sie sich gleich übergeben müssen. „Ratten aussaugen? Oh Gott, das ist ja ekelhaft.“ Sie schlendert ein wenig durch die Gruft und betrachtet die Särge. „Wo ist meine Tante?“ fragt sie dann plötzlich. Sabine schaut sie verwundert an. „Woher soll ich denn das wissen, wir sind hier kein Fundbüro. Wenn du deine Tante verloren hast solltest du vielleicht einen Detektiven engagieren.“ Das Mädchen schaut sie bissig an. „Sie wissen wohl nicht, wer ich bin?“ fragt sie empört. „Nein“, meint Sabine gelangweilt und versucht nun wieder zu lesen. „und es interessiert mich auch nicht.“ Das Mädchen kreischt und Sabine sieht wieder erschrocken zu ihr. „Ich… ich… ich bin Olga, Fräulein von Seifenschwein.“ Bei diesen Worten strafft sie ihre Brust und hebt den Kopf. Sie steht in einer gekünstelten Pose da, wie man sie sonst nur auf Gemälden findet. „Schön für dich“, erwidert Sabine und macht sucht in ihrem Buch die Stelle, an der sie so unsanft unterbrochen wurde. Sie hofft inständig, dass das Mädchen schnell wieder verschwindet und sie die kurze Zeit, die ihr hier alleine in der Gruft bleibt, bevor alle zurückpoltern, nutzen kann, um endlich weiter zu lesen. Olga macht aber gar keine Anstalten wieder zu gehen. „Ich sagte ich bin Olga Fräulein von Seifenschwein, von Seifenschwein!“ Das letzte ‚von Seifenschwein' schreit sie so laut, das Sabine erneut aufsieht. Sabine lässt sich die letzen Worte noch mal durch den Kopf gehen und langsam dämmert es ihr. „Von Seifenschwein? Es tut mir leid dir mitteilen zu müssen, aber Theodor weilt nicht mehr unter uns.“ Sabine hofft damit alles geklärt zu haben und dass das Kind nun endlich wieder verschwindet. „Das weiß ich schon. Er wunde von Vampirjägern… wie meine armen Eltern.“ Olga hat einen theatralischen Ton angeschlagen und beginnt nach den letzten Worten laut zu schluchzend. Sabine weiß nun nicht, ob die Trauer gespielt oder echt ist und tut daher erstmal nichts. „Meine armen Eltern wurden auf heimtückische Art und Weise von den Vampirjägern heimgesucht…“ erneutes Schluchzen. „Oh nein, es schmerzt so, ich kann es nicht weiter erzählen.“ Sabine ist gar nicht so wild darauf diese Geschichte zu hören und wendet sich daher wieder ihrem Buch zu. „Ich bin“, unterbricht sie Olga aufs Neue. „mit dem Klappsarg, einem Stück aus der Sargsammlung meines Vaters, durch halb Europa gezogen, um zu meiner letzten ‚lebenden' Verwandten zu kommen. Jedenfalls glaube ich, dass es meine letzte ist. Dorothee.. Wo ist sie?“ – „Sie ist draußen, auf Jagd, ich werde ihr ausrichten, dass du hier warst, wenn sie wieder kommt.“ – „Bitte? Ich werde natürlich hier bleiben, wo sollte ich denn sonst hin?“ – „Ich kenn da einen netten stillgelegten Kanalschacht. Bei Hochwasser wird er überschwemmt, aber ansonsten ist es dort trocken und gemütlich.“ Sabine grinst in sich hinein. „Kanalschacht?“ dieses Mädchen versteht es ihre Nase angeekelt zu rümpfen. „Ich kann doch nicht in einem Kanalschacht leben. Ich bin eine von Seifenschwein. Schlimm genug, dass ich hier hausen muss, in dieser… Gruft“ Das Wort ‚Gruft' klang wie eine Beleidigung, so das Sabine nun doch mehr Aufmerksamkeit dem Mädchen zuwendet. „Die Zeiten haben sich geändert Schätzchen, heutzutage müssen wir Vampire froh sein, wenn wir ein halbwegssicheres Dach über den Kopf haben. Um Luxus können wir uns da nicht kümmern. Aber wenn es dir hier nicht passt, du weißt ja wo die Tür ist. Wenn du allerdings ernsthaft vorhast hier zu bleiben und sei es auch nur für eine Nacht, dann behalte deine Meinung über mein Zuhause für dich.“ Olga sieht ein wenig erschrocken drein. Scheinbar hat noch nie jemand so mit ihr gesprochen. „Ich werde mich daran gewöhnen“, meint sie dann. „mit ein paar Vorhängen und Bildern könnte man das ganze auch ein wenig gemütlicher machen.“ Sabine schüttelt den Kopf ‚Vorhänge und Bilder', welch merkwürdige Vorstellung. „Ich werde nun meinen Sarg aufstellen.“ – „Ja, mach nur“, erwidert Sabine und hofft nun endlich lesen zu können. Schon nach einer Zeile wird sie aber von Gepolter wieder unterbrochen. Sie sieht zu Olga, die an ihrem Klappsarg herumhantiert. Sabine kann nicht erkennen, ob das Mädchen nur so tut, oder ob sie wirklich unfähig ist diese einfachen Handgriffe zu bewältigen. Sie ist sich aber sicher, dass Olga mit Absicht diesen Lärm macht. Seufzend wendet sie sich wieder dem Buch zu. Als Olga endlich fertig ist, kann Sabine grade noch ein freudiges „endlich“ unterdrücken. „Ich bin ziemlich kaputt“, berichtet Olga dann. „Die lange Reise und dabei den schweren Sarg tragen. Nicht zu vergessen, das Aufstellen desselben. Am besten ich lege mich hin.“ – „Das ist sicher das beste“, bestätigt Sabine genervt und betet jetzt zu Dracula, das endlich Ruhe herrscht. Doch nach wenigen Minuten wird der Gruftdeckel beiseite geschoben und Rüder betritt, gefolgt von Anna, die Gruft. Rüdiger ist wie in den letzten Jahren häufig melancholisch und schleicht lautlos die Treppe herunter. Unten angekommen bemerkt er aber Olga, die sich eben aufgesetzt hat, und bleibt abrupt stehen. Anna, die ebenfalls vor sich hingeträumt hat, rennt genau in ihn hinein und fällt rücklings auf die Stufen. „He, was soll das?“ pfaucht sie ihren Bruder an. Der allerdings nimmt Anna gar nicht wahr, weil er nur Augen für Olga hat. „Ich bin Olga, Fräulein von Seifenschwein“, stellt sich Olga vor und rückt dabei ihre Schleife zurecht. Rüdiger beginnt zu lächeln und Sabine weiß nicht, ob ihr das gefallen soll oder nicht. „Ich bin Rüdiger von Schlotterstein.“ Und nachdem Anna sich eben wieder erhoben hat und mit bösem Gesicht neben ihm erschienen ist, fügt er grimmig hinzu: „Und das ist meine Schwester Anna.“ Olga nickt Rüdiger zu, für Anna hat sie allerdings nur einen abwertenden Blick übrig, nachdem sie deren Kleidung gemustert hat. Sabine sieht in Annas Augen dieses böse Funkeln, das diese eindeutig von Sabine geerbt hat. Rüdiger starrt Olga immer noch lächelnd an, als diese plötzlich meint: „Ich habe Hunger.“ – „Ich könnte dir den Park zeigen“, bietet sich Rüdiger an. „Den Park? Was soll ich denn da?“ Olga rümpft wieder mal die Nase. „Dort gibt es immer Jogger und Leute die mit ihrem Hund spazieren gehen, auch um diese Uhrzeit, da findet man immer was zum Jagen.“ – „Jagen? Ich habe Diener.“ Olga reckt wieder mal ihren Kopf in die Höhe. Anna ist inzwischen zu ihrem Sarg gegangen und hat sich dort hingesetzt. Mit ironischem Ton meint sie: „Diener? Wo, ich sehe sie nicht? Stehen sie etwa draußen vor dem Grufteingang?“ Olga wirft Anna einen bösen Blick zu. „Nein, ich hatte Diener, sie haben mir und meinen Eltern das Essen besorgt.“ Bevor Olga noch mal mit ihren armen Eltern anfängt, unterbricht sie Sabine: „Ja, hier wirst du wohl selber Jagen gehen müssen.“ – „Jagen? Ich? Ich bin eine von Seifenschwein.“ Jetzt platzt Sabine der Kragen. Sie legt nun ihr Buch zur Seite: „Und ich bin eine von Schlotterstein, und wenn auch mein Adel vielleicht nicht so hoch war wie deiner, damals vor 150 Jahren in Transsylvanien, so werde ich sicher nicht dein Dienstbote und auch kein anderer aus meiner Familie.“ Rüdiger wendet sich schüchtern an Olga: „Wir könnten in den Park fliegen und ich besorg dir dort was zu essen.“ Olga lächelt ihn an. „Wenn ihr in den Park fliegt, wird Olga schön selber sich jemanden besorgen“, fährt Sabine da dazwischen. Rüdiger schaut Olga traurig an. Anna hingegen grinst. In diesem Moment poltert ein neuer Bewohner in die Gruft. Grußlos geht Lumpi zu seinem Sarg. Sabine ist über dieses Verhalten alles andere als begeistert. „Guten Abend liebster Lumpi“, meint sie daher im bissigen Ton. Lumpi hat sich eine seiner Zeitschriften genommen und darin zu blättern begonnen. Ohne Aufzusehen erwidert er Sabines Gruß. Sabine schnaubt, will sich jetzt aber wieder dem Problem Olga widmen. Diese ist inzwischen aufgestanden und zu Lumpis Sarg gegangen. Sie starrt Lumpi lächelnd an. Rüdiger sieht ihr nach und ihm scheint das gar nicht zu gefallen, dass Olga Lumpi mehr Interesse schenkt als ihm. „Wir wollten doch was Essen, Olga“, versucht er deshalb ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn zu lenken. „Essen?“ Olga schaut ihn verwundert an. Dann sieht sie wieder auf Lumpi und lächelt. „Ich habe keinen Hunger und ich kann doch jetzt nicht weg, ohne mich diesem jungen Mann vorgestellt zu haben.“ Rüdiger verzieht angewidert das Gesicht. Anna grinst. Sabine setzt sich auf ihren Sarg. „Ich bin Olga, Fräulein von Seifenschwein“, stellt sich Olga Lumpi vor und hält ihm dabei ihre Hand zum Kuss hin. Lumpi sieht nicht von seiner Zeitschrift auf und meint nur: „Für den Namen kannst du ja nichts, das waren deine Eltern.“ Olga bekommt einen wütenden Gesichtsausdruck. Anna stützt ihre Ellenbogen auf die Knie und legt ihr Kinn auf die Handflächen. Amüsiert beobachtet sie Olga. „Lass Lumpi lieber in Ruhe“, meint Rüdiger, aber Olga beachtet ihn gar nicht. Sie beginnt wieder zu lächeln und versucht es erneut Lumpi auf sich aufmerksam zu machen. „Wir wollten raus, die Sterne und den Mond ansehen, es ist so eine schöne Nacht, findest du nicht?“ Lumpi gibt nur ein Brummen von sich. „Ich dachte wir wollten was zum Beißen besorgen?“ unterbricht Rüdiger. „Aber so ein kleines Mädchen wie ich es bin, kann doch nicht ohne Beschützer da raus. Wer weiß was da für Gefahren lauern.“ Zuckersüß lächelt sie Lumpi an, der immer noch nicht von seinem Heft aufsieht. „Ich pass auf dich auf“, bietet sich Rüdiger sofort an und geht nun etwas auf Olga zu. Diese ignoriert Rüdiger immer noch und setzt nun ein etwas beleidigtes Gesicht auf, weil Lumpi immer noch nicht reagiert. Sabine hat sich inzwischen dazu entschlossen, nicht weiter zu lesen, weil diese Szene sie ein wenig amüsiert. Sie sieht zu Anna, die ebenfalls grinsend beobachtet. Von einer Sekunde zur anderen, setzt Olga wieder ihr zuckersüßes Lächeln auf. „Du könntest mich doch sicher beschützen vor dem Bösen auf dieser Welt“, mit diesen Worten legt Olga ihre Hand auf Lumpis Oberarm. Lumpi sieht nun doch von seiner Zeitschrift auf. Er starrt auf Olgas Hand, die ihn berührt. „Jetzt wird's spannend“, meint Anna leise. Lumpis Blick wandert zu Olgas Gesicht, die wohl nun bemerkt, dass er von dieser Geste nichts hält. Etwas ängstlich sieht sie ihn an, aber wieder ändert sich ihr Gesichtsausdruck innerhalb einer Sekunde und sie lächelt ihn wieder an. Sie streift über seinen Oberarm. „Nein, wie muskulös du bist?“ schwärmt sie und kneift dabei in seinen Arm. „Du trainierst doch sicher, so stark wie du bist.“ Mit diesen Worten hat sie wohl jetzt Lumpis Ego geschmeichelt, denn er lächelt sie plötzlich stolz an. „Nein, ich trainiere nicht, ich bin einfach stark. Ich bin sogar der stärkste in der Familie, deshalb heiß ich aufchLumpi, der Starke.“ Lumpi wirft die Zeitschrift beiseite und grinst sie an, während er demonstrierend seine Arme beugt. Rüdiger verzweifelt inzwischen im Hintergrund. Da plötzlich wird der Gruftdeckel wieder geöffnet und Dorothee stolpert sie Treppen hinunter. Ihr Kleid ist dreckig und zerfetzt. Sabine starrt sie an. Dorothee, die eben noch verwirrt und erschöpft aussah, strafft beim Anblick ihrer Mutter die Brust und stolziert zu ihrem Sarg. „Guten Abend, Mutter“, grüßt sie und nickt ihr dabei zu. „Guten Abend, Dorothee“, erwidert diese und sieht ihre Tochter immer noch verwundert an. Olga wendet ebenfalls ihren Blick von Lumpi ab und sieht Dorothee an. Als diese sich in ihren Sarg setzt, geht Olga auf sie zu, wieder mal lieblich lächelnd. „Oh Tante, endlich bist du da, ich habe schon so lange auf dich gewartet, wenn du nur hörst, was mir widerfahren ist, es war ja so schrecklich…“ Dorothee schaut Olga doof an. Olga streckt die Arme nach Dorothee aus, als sie jedoch ihr Kleid sieht, lässt sie sie wieder sinken. „Wer bitte bist du?“ fragt Doro und schaut dabei zu Anna, die sie nur frech angrinst. Olga ist wieder mal darüber entrüstet, dass keiner weiß, wer sie ist. „Ich bin doch Olga, deine geliebte Nichte…“, setzt dabei ein herzzerreißendes Gesicht auf. Dorothee sieht sie immer noch verdattert an. „Olga, Fräulein von Seifenschwein, du wirst mich doch nicht vergessen haben?“ sieht sie immer noch so schrecklich traurig an. „Nein, nur erfolgreich verdrängt“, erwidert diese leise. Anna lacht leise auf. Olga hat es ebenfalls gehört und blickt sauer auf Doro, bis sie wieder ihr zuckersüßes Lächeln aufsetzt und verkündet: „Ich werde nun hier bei dir Leben, weißt du meine armen Eltern…“ – „Was? Hier?“ Dorothee sieht hilfesuchend zu ihrer Mutter. Diese lächelt sie an: „Es ist deine Nichte, nicht meine.“ Doro will sich irgendwie rausreden: „Aber du kannst nicht hier blieben, wir haben gar keinen Platz.“ – „Ich kann meine Sarg auch in ein Eck schieben, damit sie meinen Platz bekommt“, verkündet Rüdiger. Doro wirft Rüdiger einen bösen Blick zu (auch sie hat den von ihrer Mutter geerbt). „Warum ziehst du nicht zu irgendwem anderen. Hast du nicht andere Verwandte, die du heims… ich meine besuchen kannst?“ Olga bekommt ein schmerzverzerrtes Gesicht und drückt ein paar Tränen hervor: „Aber ich habe doch nur noch dich, Tante.“ Mit diesen Worten fällt sie Doro nun trotz des Drecks auf ihrem Kleid um den Hals. Doro ist etwas überfordert, legt den Arm um Olga und blickt von einem zum anderen. Anna grinst nur, Rüdiger sieht sie bittend an, Lumpi hat sich wieder in sein Heft vertieft und Sabine zuckt nur mit den Schultern. „Gut, dann bleib halt, vorerst“, meint Doro dann und klopft Olga auf die Schulter. „Diese hört sofort zum Weinen auf und sieht ihre Tante an. „Das ist ja wohl auch deine Pflicht“, erklärt Olga nur, steht auf, klopft ihr Dirndl ab und geht zu ihrem Sarg. „Ich werde mich jetzt hinlegen, es war ja auch so eine anstrengende Reise“, meint sie dann und geht in ihren Sarg, ohne Gruß schließt sie ihn. Die anderen schauen sich an, selbst Lumpi, nur Rüdiger sieht verträumt auf den geschlossenen Klappsarg.